Original Buchtext:
„Hallo?“
Stille
„Ja“
Stille
„Ja“
Stille
„Ich hole meinen Mann.“
Erneut Schritte.
„Gerd, es ist was passiert, du musst kommen.“ Höre ich sie, leicht hysterisch sagen. Wieder Schritte, diesmal von beiden, dann die Stimme meines Vaters
„Ja?“ Ich stehe wie gebannt vor der Badtüre, die Stille kommt mir endlos lange vor, bis ich meinen Vater wieder höre.
„Ich öffne ihnen, kommen sie bitte hoch.“
Anhand der Stimmen erahne ich, dass es sich um zwei Männer handeln muss, die mein Vater ins Esszimmer geleitet. Der Flur dürfte jetzt wieder frei sein. Ich schlüpfe aus dem Bad, gehe direkt in unser Zimmer, lege mich aufs Bett und will warten, bis regulär aufgestanden wird.
Sandra ist durch das Klingeln inzwischen auch wach geworden.
„Was ist da los?“ Fragt sie mich.
„Ich weiß nicht, irgendwer hat geklingelt, ich glaube, das sind 2 Typen, die hat Papi mit ins Esszimmer genommen, es muss was passiert sein.“
„Sollen wir mal schauen?“
„Besser nicht.“ sage ich, und will das vor allem darum nicht, weil ich so wenig wie möglich Aufmerksamkeit erregen möchte. Sandra steht auf, öffnet die Zimmertüre einen Spalt und setzt sich davor auf den Boden. Ich bleibe liegen denn ich weiß, dass wir früh genug erfahren werden, was passiert ist. So langsam beschleicht mich immer mehr die Angst, der Besuch dieser beiden Herren könnte etwas mit mir zu tun haben. Was ist denn gestern sonst noch alles passiert? Hat mich doch jemand mit diesem Lusche gesehen? Weiß ich denn überhaupt noch alles von gestern? Mir wird heiß und kalt. Reicht es denn nicht, dass ich meine äußerlichen Wunden erklären muss? Muss es gar sein, dass ich meinen Eltern, und sonst wem noch alles, das Grauen von gestern Abend in allen Einzelheiten berichten muss?
Auf einmal rennt Sandra ins Bett und die Tür geht auf. Unsere Mutter kommt ins Zimmer und sagt mit brüchiger Stimme
„Sandra, Annie, kommt bitte ins Esszimmer, es ist etwas Schlimmes passiert“.
Beklommen und angespannt laufe ich hinter ihr her. Sie wundert sich nicht mal, dass ich schon in voller Montur, samt Halstuch da stehe, während Sandra sich noch ein Sweatshirt überstreift. Im Esszimmer sitzt mein Vater am Tisch und hat den Kopf zwischen seinen Händen auf den Tisch gelegt. Die beiden Männer, wenn es zwei waren, sind bereits gegangen. Als Vater uns hereinkommen hört, hebt er den Kopf und ich sehe, dass er geweint hat. Er wartet bis wir am Tisch sitzen, schaut erst mich, dann Sandra zutiefst betrübt an und erneut überkommt mich ein Schwall schlechtes Gewissen. Wieso mache ich meinen Vater so traurig, zuckt es mir durch den Kopf.
Er versucht, mit einem Räuspern seine Stimme wieder zu finden und sagt mit rauer Kehle,
„Eure Tante Margret, meine Schwester ist gestern in Sizilien umgekommen, es war angeblich ein Unfall. Mehr haben sie uns nicht gesagt. Mehr wissen sie im Moment noch nicht“.
Im ersten Augenblick begreife ich nicht, was er gesagt hat, ich begreife nur, dass das Alles heute früh nichts mit mir zu tun hat. Erleichterung macht sich breit. Nachdem ich in das todernste Gesicht meiner Mutter geschaut habe, kann ich es gerade eben noch verhindern, vor Befreiung zu lachen. Dann erst begreife ich das Ausmaß dessen, was mein Vater gerade gesagt hat.
„Ein Autounfall?“ Frage ich?
„Haben sie nicht gesagt, ist schwierig, weil es im Ausland passiert ist. Da müssen sie Interpol einschalten und die Kommunikation mit denen sei äußerst schwerfällig.“
Sandra sitzt nur mit offenem Mund da, das Schluchzen meiner Mutter im Hintergrund schwillt zu einem lauten Gejammer an.
„Das ist ja so furchtbar!“ Heult sie, „dabei haben sie sich doch gerade erst das Ferienhaus in Cefalu gekauft.“
Ein Unfall? In Sizilien?