Original Buchtext:
In den ersten 3 Monaten in dieser mir jetzt schon verhassten Schule lerne ich mehr über die katholischen Rituale kennen, als es mir lieb ist. Bei den wöchentlichen Gottesdiensten, die immer mit dem Abendmahl enden wird meine Ausgrenzung ganz besonders zelebriert, da ich als einzige evangelische Schülerin in der Kirchenbank sitzen bleiben muss, während alle anderen vor gehen dürfen, um ihre Oblate zu empfangen und gesegnet zu werden. Wenn es für mich zu Beginn noch etwas Tolles hatte, etwas Besonderes zu sein und ich sogar stolz darauf war, mich von den anderen rein optisch abzuheben, so empfinde ich das im Laufe der Zeit immer mehr als Belastung. Vor allem bei den Ausgrenzungen, die nicht durch mein eigenes Verhalten provoziert wurden.
Das Allergruseligste an dieser Schule ist der unterirdische Gang vom Altbau zum Neubau. Die krudesten Geschichten ranken sich um diesen Gang. Nonnen, die dort angeblich ihre toten Babys vergaben haben, Vergewaltigungen durch den humpelnden Hausmeister, Geister und Zombies, die einem dort auflauern und, und, und … Absolute Spezialistin im Erzählen von Horrorgeschichten ist Sabine Sonderbuch, als eingefleischte Katholikin kennt sie sich bestens aus bezüglich katholischer Riten und klösterlicher Gepflogenheiten. Geschmückt mit ihrer boshaften Fantasie streut sie regelmäßig äußerst gruselige Geschichten in die Runde.
Bereits in der ersten Schulwoche komme ich in den Genuss, meine Gangerfahrung zu machen, nachdem mir zuvor unter vorgehaltener Hand die furchterregendsten Horrorgeschichten erzählt wurden. Am Mittwo haben wir Sport in der Turnhalle im Neubau. Normalerweise geht man oberirdisch, ganz einfach über den Schulhof dort hin. Aber der erste Gang durch den unterirdischen Gang ist so eine Art Feuertaufe für neue Schülerinnen. Ich wurde auserwählt, die Gangerfahrung als erste in diesem Schuljahr machen zu „dürfen“. Erst gestern noch hat Sabine Sonderbuch mich beiseitegenommen und mir erzählt, dass im letzten Schuljahr eine Schülerin tagelang im Gang verschollen war. Als sie wieder in der Schule gesichtet wurde, war sie total abgemagert, hatte kurz geschorene Haare und war mit Kratzern, Schrammen und blauen Flecken übersät. Kurz danach war sie von ihren Eltern aus der Schule genommen worden.
Der Gang ist gute 200 m lang und hat nur am Anfang und am Ende einen Lichtschalter. In der Mitte macht er einen leichten Knick. Es wird gemunkelt, dass in der Mitte des Ganges versteckte Türen in die Wände eingelassen sind, durch die es in geheime Räume geht. In diesen werden angeblich mittelalterliche Rituale zelebriert. Nonnen sollen dort eingesperrt sein, die sich den katholischen Zwängen widersetzt haben oder die für sonst was bestraft wurden.
In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch mache ich kein Auge zu. Die bloße Vorstellung, was mir in diesem Gang alles widerfahren könnte, treibt mir den Angstschweiß auf die Stirn. Zwischendurch überlege ich mir Ausreden, um am Mittwoch gar nicht erst in die Schule gehen zu müssen. Zum Beispiel krank zu machen, oder einfach zu schwänzen. Dann wiederum wird mir klar, dass es mir nichts bringen wird, dann muss ich eben nächste Woche in den Gang, oder übernächste oder überübernächste. Und wenn meine Mitschülerinnen mitbekommen, dass ich kneife, bin ich für die restlichen Jahre an der Schule als Feigling abgestempelt. Das würde ja nun mal gar nicht zu meinem selbst erwählten Image, als viel reifere, den Anderen weit überlegene, coole Person passen. Es bleibt mir also nichts anderes übrig. Und so stelle ich mich tapfer meinem Schicksal und mache mich an diesem Mittwoch im September 1974 wie gewohnt um 7.15 Uhr auf den Weg in die Schule. Um zu meiner Garderobe zu gelangen, die von mir immer noch im Hinterhof von Iris´ Haus gehegt und gepflegt wird, muss ich inzwischen einen kleinen Umweg gehen. Der neue Schulweg führt jetzt in entgegengesetzte Richtung wie der früher zur Hauptschule. Heute habe ich nicht so viel Zeit mich zu stylen, die Schule beginnt bereits um 7.45 Uhr, und in der 3. Stunde, nach der großen Pause haben wir dann Sport. Das heißt, in der großen Pause muss ich durch den Gang laufen. Nun sitze in meiner Geheimgarderobe und überlege, was ich anziehen soll. Schuhe sind ja sowieso egal, da ich in der Schule die verhassten Hausschuhe anziehen muss. Die enge Wrangler-Jeans mit den Löchern muss es auf jeden Fall sein. Und meine Fransenjacke, die sich im Laufe der Zeit für mich immer mehr vom modischen Kleidungsstück zu meinem speziellen Schutzpanzer entwickelt hat.
Um mich von meinem bevorstehenden Horrorgang abzulenken, denke ich daran, wie es war, als ich damals die Fransenjacke gekauft habe. Aber es gelingt mir nicht. Nicht heute in diesem angespannten Zustand. Zu gerne wollte ich mich auf den positiven Moment, wie z.B. den, als ich diese Jacke zum ersten Mal angezogen mein Eigen nennen konnte, besinnen. Es ist mir nicht vergönnt. Vielmehr fällt mir, passend zu meiner Stimmung, der Tag ein, an dem meine Mutter herausgefunden hat, dass ich ihr das Geld aus dem Geldbeutel gestohlen hatte.
Das Grauen