Original Buchtext:
- Der Gang durch den Gang, 11. September 1974
Kleinstadt im Süden Deutschlands
Die Englischstunde neigt sich dem Ende zu, gleich haben wir große Pause und danach Sport, drüben im Neubau. Zwischen hier und dem Neubau liegt der Gang und ich muss heute da durch. Ich kann mich nicht konzentrieren, denke nur an den Gang und erschrecke gehörig, als Schwester Canisia plötzlich neben mir steht und mich anstarrt.
„Ich habe Dich was gefragt, Annie“ Sagt sie freundlich.
„Entschuldigung, ich habe nicht aufgepasst, tut mir leid.“
Stottere ich, in dem Moment schrillt die Schulglocke. Schwester Canisia ist eine der lieben Sorte, sie schaut mich warmherzig an und meint im Weggehen
„Glück gehabt, Annie.“
Glück? Wenn sie wüsste. Mir steht der Horrorgang durch den Gang bevor und das soll Glück sein? Mein Verstand sagt mir, dass an sich nur die Aktionen meiner Mitschülerinnen den Horror im Gang ausmachen, aber so ganz gehen mir die Gruselgeschichten von vergrabenen Baby´s und deren Seelen nicht aus dem Kopf. Und wer sagt denn, dass der humpelnde Hausmeister nicht doch da drin ist und mir auflauert? Am allermeisten graust es mir vor den Bösartigkeiten, die sich meine Mitschülerinnen einfallen lassen, um diese Gangerfahrung zum Horrortrip zu machen,
Ich gehe ins Untergeschoss zur Umkleide wo unsere Hausschuhsäckchen hängen, um meine Sportsachen zu holen. Von dort gelangt man über den Heizungskeller in den Gang. Sabine Sonderbuch wartet schon mit ihren Freundinnen Heidrun Neher und Bärbel Brunnmann in der Umkleide auf mich. Andere Schülerinnen aus unserer Klasse stehen dabei und sie frotzeln,
„Na? Schon Schiss?“
„Willst Du es wirklich wissen?“,
„Ich würde mich da nicht trauen“
„Schon mal was von Elke M. gehört? Die kam angeblich nie wieder raus aus dem Gang“. Und während sie alle so durcheinander reden, schupsen sie mich zwischen sich umher.
„Lasst mich in Ruhe, ich gehe ja durch den Gang.“ Sage ich und winde mich aus dem Kreis der Drei heraus. Gehässiges Gelächter gemischt mit anerkennendem Gemurmel höre ich aus der umstehenden Menge. Mit erhobenem Haupt und stolzem Blick schnappe ich mir meinen Turnbeutel und laufe zum Heizungskeller. Die schwere Metalltüre zum Gang hat aus Brandschutzgründen immer geschlossen zu sein, deshalb fällt sie auch immer wieder gleich zu. Dasselbe gilt für die Türe am anderen Ende des Ganges. Ich wuchte die Türe auf und mache das Licht an. Das Licht hat eine Zeitschalte, die normalerweise gut reicht um gemächlich durch den Gang zu gehen. Trotz Licht ist es aber in der Mitte des Ganges, dort wo der leichte Knick ist, immer stockdunkel. Der Boden ist aus rohem Beton, die Wände sind hüfthoch grau lackiert, darüber weiß verputzt. Ich nehme mir vor, langsam und bedächtig zu gehen, immer die Augen weit aufgesperrt, damit mir nichts entgeht. Durch den Knick in der Mitte hat man immer das Gefühl ins Nichts zu laufen. Auch bei Licht, man sieht kein Ende und man weiß nicht, was auf der anderen Seite des Knicks passiert. Ich höre dumpfe Geräusche, als wenn jemand auf einen Körper einschlägt, ich setze einen Fuß vor den anderen, schaue nach vorne, nach links, nach rechts, nichts Besonderes zu sehen. Die Töne werden immer dröhnender und dann zuckt ein Blitz von jenseits des Knicks auf. Meine Sicht ist durch den Blitz geblendet, ich bleibe stehen. Die Geräusche sind verstummt, ich gehe weiter. Ich habe viel zu viel Zeit verloren, ich werde es bestimmt nicht mehr schaffen bis zum Ende des Ganges zu gelangen, bevor das Licht ausgeht. Ich gehe zügiger, nähere mich dem Knick, jetzt ist es totenstill. Dafür höre ich immer lauter das Blut in meinen Ohren rauschen. Wie ich um den Knick laufe und schon das andere Ende des Ganges, mit der rettenden Türe sehe, geht das Licht aus. Die Schlaggeräusche erklingen erneut, diesmal untermalt mit einem Wehklagen und Heulen, kurz glaube ich, Sabine Sonderbuchs Stimme herauszuhören.
Das bringt mich dann wieder etwas zur Vernunft und ich schelte mich innerlich, mir so viel Angst eingeredet zu haben. Reiß dich zusammen, sage ich mir und mache mich forschen Schrittes daran, die letzten 100 Meter des Ganges hinter mich zu bringen. Plötzlich stolpere ich über etwas und falle längs auf den Boden, ich spüre ganz viele Hände, die nach mir greifen und an mir zerren, mich kneifen, zwicken und kratzen. Wie Nadelstiche fühlt es sich an, nein es sind Nadelstiche, überall, an meinen Armen, Händen, Schenkel, Rücken. Ich krabble auf allen vieren weiter, aber die Hände halten mich fest. Ich komme nicht voran. Die Stiche hören nicht auf, ich schlage um mich und schreie:
„Hör auf Sabine! Das geht zu weit!“ Aber sie hören nicht auf, untermalt von den Klopfgeräuschen und dem Winseln, Heulen und Jammern.
Irgendwann lassen sie von mir ab. Ich krabble so schnell ich kann Richtung Ende des Ganges, stoße mich dabei mehrmals mangels Sicht und Orientierung an den Wänden an, bis ich endlich die Türe erreiche. Ich öffne sie, sehe den Lichtschalter, mache das Licht an und drehe mich um. Der Gang ist fatzenleer, kein Mensch zu sehen und kein Laut ist mehr zu hören.
Ich schaue meine Arme an, die Stiche haben größere und kleinere Blutflecken hinterlassen. Meiner Jeans hat es nicht viel ausgemacht, zumal sie ohnedies schon zerrissen ist, aber meine Fransenjacke hat mindestens 20 Fransen verloren. Ich blute aus der Nase, habe mir sie vermutlich an der Wand angestoßen, mein Turnbeutel fehlt und mein T-Shirt ist am Halsausschnitt aufgerissen. Aber ich habe es geschafft, ich bin durch. Jetzt muss ich nur noch meinen Turnbeutel holen, also noch mal rein in den Gang, Licht an, bis zur Mitte rennen, meine Siebensachen, die dort verstreut herumliegen, einsammeln und schleunig wieder zurück zur Türe. Es kommt mir vor, als hätte ich ein paar Schatten am anderen Ende des Ganges weghuschen gesehen.
Jetzt habe ich also diese Feuertaufe hinter mir. Und? Frage ich mich, was hat es mir gebracht?
Am nächsten Tag spreche ich mit Susi darüber. Sie hat mir gezeigt, wie man unbemerkt in der großen Pause zur Raucherecke kommt, da vertraue ich mich ihr an.
„Ich verstehe nicht, warum sie das tun? Und warum nur bei mir? Man hat mir gesagt, das muss jede Neue machen, und jetzt lachen sie mich aus, weil ich es mitgemacht habe. Außer mir muss Keine da rein, Keine! Verstehst Du? Das haben sie mir danach gesagt. Das musste nur ich machen!“ Ich rege mich wahnsinnig auf, aber Susi bleibt total gelassen. Sie zieht an ihrer Zigarette, grinst und sagt
„Das machen sie nur mit denen, die sie loswerden wollen, ich musste da auch durch“.
„Echt? Wollten sie dich auch loswerden?“
„Ja, aber sie haben es nicht geschafft“ freut sich Susi, „weil sie mir scheißegal sind.“
Sie hat recht, denke ich, und mich kriegen sie auch nicht los. Meine Kampfansage an die Klosterschülerinnen war gesetzt.
Mobbing an der Schule